il carso. la bora.

mike markart - martin g. wanko.

© Mike Markart


Das Boot von Alessandro und Giovanna.


Irgendwann nehme ich das Boot von Alessandro und Giovanna an mich.

Genau das habe ich sofort gedacht, als es vor Jahren auf einem leicht ansteigenden Wiesenstück vor Anker gegangen ist. Von einem Zaun, den ein nur angelehntes Tor notdürftig und eigentlich vergeblich vor neugierigen Händen zu schützen versucht, umfasst.

Seitdem bin ich täglich an dem Garten in der Via Duino vorbeigegangen, in welchem eine Vielzahl von Pflanzen das Boot immer mehr in sich aufgenommen hat, wie eine Hand, die sich langsam über einem Stein oder etwas ähnlichem schließt, das man am Strand aufgehobenen und eine Zeitlang bewundernd betrachtet hat.

Das Boot entzieht sich inzwischen den Blicken der Vorbeikommenden.

Ich weiß aber, dass es immer noch hier liegt, schließlich schaue ich ihm beim Verschwinden zu, seit es an diese Stelle gebracht worden ist.

Am Tag nach dem Vorfall mit Alessandro, Giovanna.

Und dem mit Dunkelheit gefüllten Meer.

Einige Männer des Ortes trugen es hier herauf. Wie Sargträger gingen sie von der Anlegestelle die menschenleere Straße entlang, in der Hitze der Tagesmitte.

Sie gingen durch das geöffnete Tor auf die Wiesenfläche hinein und hoben das Boot vorsichtig von den Schultern. Stellten es langsam auf den Boden. Dann berieten sie sich eine Zeitlang und entschlossen sich, das Boot umzudrehen, mit dem Bauch nach oben.

Wie bei einem toten Fisch.


Sie gingen zurück auf die Straße, zogen das Tor hinter sich zu und marschierten gemeinsam in den Ort hinein.

Das konnte ich damals sehen. Ich hatte eine Stelle gefunden, von welcher ich das Geschehen gut beobachten konnte und selbst das Gefühl hatte, nicht entdeckt zu werden.


Ich komme vom Meer und gehe langsam bergan.

Gegen Mittag.

Ganz früh, den Augenblick des Sonnenaufgangs genau treffend, bin ich vor vielen Stunden in die kühle Nähe des Meeres eingetaucht.

Wie immer.

Von meinem Platz habe ich lange Zeit nur geschaut.

Schließlich kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren, wenn ich das Meer betrachte.

In ihm lese.

Es schreibt sich ja ständig fort.

Einige Stunden später, als ich meine Lektüre der an diesem Morgen nur ganz zarten Bewegungen des Wassers abgeschlossen habe, gehe ich die gewundene Straße wieder zurück. Diese hat sich inzwischen am Anblick der hoch aufgestiegenen Sonne erhitzt.

Ich bin entschlossen, das Boot heute ans Tageslicht zu holen, indem ich die Pflanzen entferne.

Die dicken, zähen Ranken.

Die sich in weiten Wegen um das Boot gelegt haben.

Wie anfangs verliebte Arme, die irgendwann das Gefühl dafür verloren haben, wann genug ist.

Ich habe natürlich schon bei Tagesanbruch gewusst, dass heute die Zeit gekommen ist, das Boot zu heben, deshalb habe ich eine Sichel in meinen Rucksack gepackt, bevor ich am oberen Ende des Ortes losmarschiert bin.

Es ist allerdings so, dass ich die Sichel schon vor vielen Monaten gekauft habe. Nachdem mir klar wurde, dass der Zeitpunkt, das Boot endlich zu befreien, bald kommen würde.

Es ist nicht üblich, dass jemand in dieser Gegend in ein Geschäft kommt, um eine Sichel zu kaufen. Aus dem Grund konnte ich diese damals im Verkaufsraum auch nicht finden und war auf die Hilfe des Verkäufers angewiesen.

Mir kam vor, dass man mich gerade wegen meines unüblichen Wunsches ganz besonders und lange musterte. Langsam von oben nach unten. Und wieder zurück.

Der Wunsch, eine Sichel zu kaufen und mein Äußeres waren für den Verkäufer offensichtlich kein selbstverständliches und homogenes Ganzes.

Der Verkäufer war irritiert und das irritierte auch mich.

Wenn meine unzähligen Einzelteile in Unruhe geraten, braucht es sehr lange, bis sie sich wieder zu jenem mir bekannten Bild ordnen, welches beruhigend auf mich wirkt.

Der Verkäufer verschwand in den hinteren Räumen des Geschäftes, welche man als Käufer gar nicht betreten darf, die also dem Verkaufspersonal vorbehalten sind.

Ich war jetzt allein und schickte einige Gedanken los, um mich zu beschäftigen. Ich hätte auch ein Messer kaufen können, dachte ich. Um mir das hier zu ersparen, denn natürlich habe ich davon ausgehen können, dass genau das passiert: Dass ich dem Verkäufer in Begleitung meines Wunsches, eine Sichel zu kaufen, verdächtig erscheinen würde.

Am Ende meiner Gedanken drehte ich mich um und schaute in den Verkaufsraum.


Endlich kam der Verkäufer aus den hinteren Räumen zurück. Die Sichel befand sich in einem dickwandigen Karton.

Der Verkäufer blickte mich an und hob den Deckel der Schachtel. Ich machte einen zaghaften Schritt nach vor, warf einen Blick auf die Sichel und war zufrieden.

Ich nickte deshalb.

Der Verkäufer schloss die Schachtel wieder und nachdem ich keinen weiteren Wunsch hatte, tippte er den entsprechenden Betrag in die Kasse ein und nannte mir den Preis. Streckte mir den Kassenbon entgegen.

Als ich aus dem Geschäft trat, dachte ich über die gerade zu Ende gegangene Situation nach. Jeder Mensch kann denken was er will und deshalb kann sich auch der Verkäufer seine Gedanken über mich und die Sichel machen. Das ist sein gutes Recht, dachte ich. Ich redete beruhigend auf mich ein, während ich ging.

Ich brauche einige Zeit, bis ich ein gedankliches Zimmer, das mich bewegt und aufwühlt, auch wirklich wieder verlassen kann.

Als ich keine fünfzehn Minuten später mein Haus betrat und der Sichel sofort einen Platz im Vorraum zuteilte, war natürlich nicht wirklich Ruhe in mich eingekehrt. War meine Ordnung nicht annähernd wieder hergestellt.

Aber damit konnte ich leben.


Mit dieser Sichel, welche ich also schon vor Monaten gekauft habe, versuche ich nun, dem Dickicht beizukommen.

Geduldig.

Und mit Bedacht.

Schließlich will ich das Boot nicht zusätzlich schädigen.

Denn davon gehe ich aus:

Dass die lange Zeit ihre Spuren hinterlassen hat.

Die salzhaltige Luft ebenso.

Und die Tatsache, dass sich niemand um das Boot kümmert. Etwas tut gegen den Verfall.

Ich verlasse niemals das Haus, ohne meine Stiefel zu tragen, deshalb kann mir das Dickicht nichts anhaben.

Die vielen Tiere, die in ihm wohnen.

Damals, am Tag nach dem Vorfall habe ich gedacht, Alessandro und Giovanna seien einfach fort. Hätten den Ort verlassen, wie viele andere ihres Alters.

Seien vom Angelhaken der Eltern.

Wären den Stellnetzen entkommen.

Oder sie wären auseinander gegangen und somit unsichtbar geworden, weil ich sie nur in dieser Symbiose gekannt und eben gesehen habe.

Aber inzwischen weiß ich: Alessandro und Giovanna sind am Meeresgrund vor Anker gegangen.

Dort haben sie den letzten Hauch ihres Lebens in den bewachsenen Grund gepflanzt.

Für einander.

Wie die Menschen des Ortes sagen.

Nur wenige Meter von der Hafenmauer entfernt.

Dort ist das Wasser an einer Stelle tief, der Weg hinunter weit.

Und finster genug.

Um zwei Ertrinkende unsichtbar zu machen für eine gewisse Zeit.


Ich bin geduldig.

Trage Schicht um Schicht ab. Zuerst die frischen, saftigen, dann die zu Schnüren vertrockneten Pflanzen, welche das Boot an die Erde gebunden haben.

Nach einigen Stunden habe ich das Boot befreit.

Es gelingt mir, es anzuheben, kurz Schwung zu nehmen und es mit einem Wurf umzudrehen.

Ich prüfe das Seil, das am Bug des Bootes befestigt ist. Es ist in erstaunlich gutem Zustand.

Ich ziehe das Boot durch das nur angelehnte Gartentor hinaus auf die Via Duino.

Es macht mir nichts aus, dass die Menschen jetzt auf mich aufmerksam werden. Denn natürlich ist es kein großes Geheimnis, was ich tue. Schließlich mache ich Lärm.

Viel Lärm.

Als ich das Boot die Straße hinauf ziehe.

Bis zu meinem Haus in der Nähe des Schlosses.

Ich will mit dem Boot von Alessandro und Giovanna hinauf ins Gestein. Auf den Monte Carso im Rücken von Triest.

Das erscheint mir vernünftig.

Ich kann das Boot nicht einfach zurück ins Meer bringen, an jenen Punkt, an welchem man die toten Körper herausgezogen hat.

So funktioniere ich nicht.


Es wird bald dunkel.

Ich ruhe mich auf dem Bett ein wenig aus. Schlafen kann ich nicht.

Der Papagei, der seit einigen Jahren hier im Ort lebt, holt mich bereits vor der Dämmerung aus meinen Gedanken.

Ich trinke ein Glas Wasser, um klar zu werden. Damit lasse ich mir wie immer Zeit.

Stunden bedeuten mir nichts.

Inzwischen ist es hell geworden, die ersten Autos fahren an meinem Haus vorbei. Ich gehe ins Freie um mich an die Arbeit zu machen.

Ich kann das Boot natürlich nicht auf dem Dach meines Autos transportieren, deshalb habe ich schon vor Wochen mit einem Nachbarn vereinbart, dass er mir seinen Bootsanhänger leiht.

Jeder zweite hat hier einen solchen Anhänger, weil auch jeder zweite ein Boot besitzt. Ich allerdings habe keinen, denn das Boot, welches ich transportieren muss, gehört mir nicht, ich besitze es nur für eine Fahrt.

Das Boot ohne Hilfe auf den Anhänger zu bringen und es dort zu befestigen, ist nicht einfach und dauert einige Stunden. Dennoch bin ich zufrieden, dass ich vor Mittag aufbrechen kann in Richtung San Dorlìgo della Valle.

Ich fahre vorsichtig, denn ich weiß ja nicht, wie das Boot in meinem Rücken in einer Gefahrensituation reagiert. Diesbezüglich habe ich keine Erfahrung und mein Nachbar, dem der Anhänger gehört, hat mich gewarnt.

Ich bin noch nicht weit gefahren, da läutet das Telefon, ich hebe aber nicht ab, um die Konzentration nicht zu verlieren.

Und ich habe Glück, denn schon einige hundert Meter, also wenige Sekunden weiter tritt ein Polizist einen kleinen Schritt auf die Straße, um mir mit einer bestimmenden Armbewegung zu signalisieren, an den Straßenrand zu fahren und anzuhalten.

Ich erschrecke immer, wenn die Polizei etwas von mir will. Obwohl ich auch jetzt nichts Verbotenes tue. Nicht telefoniere und auch die Geschwindigkeit nicht nur einhalte, sondern wegen der Besonderheit der Situation sogar deutlich unterschreite.

Ich bringe den Wagen langsam zum Stehen und steige aus. Der Beamte kümmert sich allerdings nicht um mich, sondern ist bereits hinter den Wagen, zum Boot gegangen.

Natürlich sieht das Boot nicht gut aus. Das weiß ich selbst.

Es ist gezeichnet von dem was es seit dem Vorfall mit Alessandro und Giovanna mitgemacht hat.

Seine Farbe ist abgeblättert.

Es hat darüber hinaus eine Vielzahl von Roststellen. Einige der Holzteile sind entweder ganz gebrochen oder zumindest merklich beschädigt.

Ich befürchte, der Beamte könnte mich in Bezug auf mein Vorhaben befragen. Ich habe viel Erfahrung damit, wie Menschen reagieren, wenn ich sie mit meinen Ideen konfrontiere.

Allerdings interessiert er sich nicht dafür, was ich mit dem Boot zu machen gedenke, sondern er überprüft nur, ob das Boot den Vorschriften entsprechend auf dem Anhänger befestigt ist.

Er ist zufrieden und wünscht mir eine gute Weiterfahrt.

Ich steige wieder in den Wagen, atme durch und setze meine Fahrt fort.

Es dauert nicht lange, schon fahre ich in San Dorlìgo della Valle ein und so weit in Richtung Monte Carso, wie es erlaubt ist.

Ich will kein unnötiges Risiko eingehen indem ich Verbote missachte. So trenne ich den Anhänger vom Wagen und ziehe ihn selbst so weit es geht. Nicht ohne mich vorher zu vergewissern, dass dieses Vorgehen nicht in den auf der Tafel vermerkten Verbotsrahmen gehört.

Besonders weit komme ich mit dem Anhänger ohnehin nicht mehr, denn bald endet die asphaltierte Straße und ein steiniger, ansteigender Weg beginnt.

Hier hole ich das Boot vom Anhänger. Zu meiner Überraschung kostet das weder besonders viel Zeit noch Kraft.

Es ist nicht immer leicht für einen wie mich, Dinge, die ich mir ausgedacht habe, in die Tat umzusetzen.

Was ich mir ausdenke erscheint bei erster Betrachtung in den meisten Fällen nämlich unmöglich.

Alles was ich denke ist eigentlich zum Scheitern verurteilt.

Aber ich gebe niemals auf.

Darum schaffe ich das Unmögliche zu meinem eigenen aber auch zum Erstaunen der anderen sehr oft wirklich.

Als wäre ich ein Zauberer.

Das alles ist natürlich keine Erklärung dafür, warum ich dazu neige, zu tun was ich so häufig tue.

Ich brauche ohnehin keine.

Ich tue es einfach.

Ganz gleich was andere darüber und über mich denken.

Die Menschen haben in einer Welt, der die Geheimnisse verloren gegangen sind, oft wenig Verständnis.

Dass der Aufstieg auf den Monte Carso nicht leicht werden würde, ist mir klar gewesen. Ich ziehe das Boot jetzt an jenem Seil, das am Bug befestigt ist Meter um Meter nach oben.

Es wehrt sich.

Es ächzt und stöhnt.

Reibt hart über die spitzen Steine. Schreit immer wieder auf.

Meine empfindlichen Ohren schmerzen deshalb.

Es gibt aber kein Zurück mehr für uns beide.

Solange ich mich stark fühle, habe ich keine Gedanken für etwas anderes.

Ich habe nur die Steilheit des Berges vor mir.

Und ich denke an das Boot.

An Alessandro und Giovanna.

Und ein wenig an mich selbst.

Als mich die Kräfte aber zu verlassen beginnen, wird mein Blick wieder weit.

Ich sehe mich um, weil ich aus mir allein nicht mehr die ganze Energie für mein Vorhaben ziehen kann.

Einer der Gäste der Trattoria Al Pozzo beobachtet mich.

Vom gegenüberliegenden Berg also.

Einer jener Menschen, die nur gekommen sind, um auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen, ein paar Gläser Teran zu trinken, würzigen Prosciutto und Käse zu essen, wird irgendwann auf mich aufmerksam.

Er schaut eine Zeitlang, bezieht dann die anderen in seine erstaunlichen Beobachtungen ein.

Bald stehen sie von den Tischen auf, drängen sich am Geländer der Terrasse und lassen mich und mein Tun nicht mehr aus den Augen.

In meinem Kopf braut sich etwas zusammen, das spüre ich deutlich.

Ich kenne die Wettersituation dieser Gegend sehr gut und habe deshalb keine Hoffnung, die stürmische Luft der Bora könnte bald schon in meine Segel fahren und mich und das Boot den Berg hinauf jagen mit einigen kräftigen reffoli.

So habe ich an die Grenzen meiner Kräfte zu gehen, um weiterhin Meter um Meter voran zu kommen.

Die Hitze setzt mir natürlich ebenfalls zu.

Aber ich denke wie immer gar nicht daran, aufzugeben.

Nicht wegen der rasch wachsenden Menschenmenge auf der Terrasse der Trattoria, die mich staunend anfeuert.

Alle Aufträge, die ich ausgebe, gelten immer nur mir allein.

Jetzt habe ich die Spitze des Berges erreicht. Mein Gefühl für Zeit habe ich längst verloren.

Die Menschen gegenüber auf der sonnigen Terrasse des Restaurants sind aufgeregt. Schließlich hat sich die Situation über Stunden zugespitzt. Haben mir anfangs einige wenige zugesehen, ist die Terrasse jetzt gefüllt wie ein Fußballstadion.

Und ähnlich geladen ist die Stimmung.

Die Menschen sind erregt, wissen aber nicht, was sie überhaupt zu erwarten haben.

Endlich bin ich ins Boot gestiegen und bereit für alles.

Die Kinder des Ortes haben einmal zu mir gesagt: Giovanna hat einen umgekehrten Mund.

In dem Moment beginne ich aus meinen Gedanken heraus zu regnen. Ich komme in Fahrt, der Regen ist so heftig, dass ich nicht mehr zur Terrasse und zu den Menschen hinüber sehen kann. Auch sie werden mich möglicherweise nicht mehr sehen können. Aber dafür habe ich ohnehin keinen Gedanken frei zwischen den Regenfällen und Flüssen in meinem Kopf.